Lebensbeichte

Bericht eines Betroffenen aus der Selbsthilfegruppe

   

"Noch 6 1/2 Stunden. Dann schreiben wir das Jahr 2008. Jetzt gehe ich bereits in mein neunzehntes Trockenjahr und nutze die Gelegenheit, rückblickend auf „Ereignisse und Geschehnisse“ meiner Nüchternheit zu schauen.

1990 in der Klinik trocken geworden, habe ich eine anschließende Langzeittherapie erfolgreich durchstanden und mich dann, nach und nach, den Anonymen Alkoholikern angeschlossen. Trotz nachlassendem Trinkverlangen haben mich die Rückwirkungen meiner Fehlentscheidungen, die noch aus vergangenen, nassen Zeiten herrührten, immer im Würgegriff belassen und schwer deprimiert. Nach langer Zeit des scheinbaren nur „Durchhaltens“ konnte ich im Meeting dann einen Beitrag mit folgenden Worten beginnen: „Mein Name ist Rudi und ich bin heute glücklich geschieden.“ – Denn mit dem Augenblick, in dem ich das erste Glas stehen lassen konnte haben sich meine Lebensschwierigkeiten auch ohne Sprit nicht gelöst, so sehr ich mir das auch gewünscht hatte - damals.

Das gefürchtete Kopfkino hat mich jahrelang so bedrängt, dass ich von Woche zu Woche immer wieder mit einem einzigen Thema konfrontiert und beschäftigt war. Mit meiner Angst.

Ein Versager zu sein konnte ich ja im vernebelten Kopf durch den alkoholischen Nachschub immer noch gut verdrängen. Aber nüchtern...? Hier war ich plötzlich mit mir und meinen Gedanken alleine... und doch irgendwie nicht. Was erzählen denn die anderen da im Meeting? Was erzähle ich denn jetzt von mir....?

Natürlich ... das was mich belastet. Ehrlich, ohne Umschweife und gerade heraus. So wie ich es empfinde. - Selbst als die Freunde darauf keine Antworten in ihren Beiträgen für mich fanden, war mir doch, als ob die Worte unsichtbar aufgenommen wurden, denn ich spürte ein Nachlassen meiner augenblicklichen Schwere. – Aber wie und von wem?

Wir Alkoholiker sprechen oft von der Höheren Macht, wie sie jeder für sich erkennt und von einem „Spirituellen (Lebens-)Programm“, das bei vielen wirkt. Aber was ist das: Geist und geistig? - Vom Weingeist weiß ich nur, das er mich blind in mein Verderben rennen ließ. Selbst unter den guten, auch ernst gemeinten Vorsätzen, mit dem Trinken aufzuhören. Und trotzdem gelang es mir auch nicht mit der besten verstandesmäßigen Willensanstrengung vom Alkohol zu lassen. Erst am Tiefpunkt, als ich merkte das gar nichts mehr geht, als meine Seele, der Geist, mein bewusstes Ich am Abgrund stand – da erkannte ich plötzlich dass ich nur noch eine Chance habe. Ja, seitdem bin ich trocken. Und das ohne übermenschliche Kraftanstrengung.

Viel schwieriger erschien es mir mit der Zeit, die vielen Niederlagen und erbärmlichen Resultate meines bis dahin geführten Lebens zu ertragen und einen Neuanfang zu beginnen; nach der Kapitulation, die bedingungslos war. Das Aufräumen mit der Scherbenlast war das erste, was ich grobstofflich in die Tat sichtbar umsetzen konnte. Der Wille, also der Wunsch, das war schon eine Gedankenform, den ich dann nicht mehr sichtbar nachvollziehen konnte. Aber mit der Zeit kam einiges zurück, so dass ich heute ein Leben führen kann, das mir gefällt und mich auch ausfüllt...

So gelang es mir also im Meeting, meine Schwierigkeiten und Ängste einfach von der „Seele zu reden“ und Geduld mit mir als auch zu den anderen Teilnehmern aufzubringen. Durch Disziplin, zu deren Ausübung ich jetzt wieder in der Lage war, konnte ich lernen pünktlich zu sein und zu meinen Versprechungen, die ich von mir gegeben habe, zu stehen. – So habe ich meinen Dank auch schon im Meeting mit folgenden Worten ausgedrückt: „Ich glaube das die Höhere Macht sicht freut, wenn man an sie denkt und sich an sie richtet wenn man Hilfe braucht.“

Sicherheit mit dem was ich denke, erfuhr ich dann durch das Empfangen von Bildern, die im Hinterkopf Formen annahmen, um vom Verstand nur noch in Worte gefasst zu werden. Damit erhielt ich die Spiritualität für mich und weiß heute, das Gedanken, gesprochen und gedacht, durch alle Stofflichkeiten und Nichtstofflichkeiten dringen.

 

00:00 h. - Es ist Neujahr, in der Nachtbarschaft knallen bereits die ersten Sektkorken und die Silvesterraketen verschönern gleich den nächtlichen Himmel, obwohl Nebel aufzieht. Ich bin zufrieden oder besser gesagt - ich bin glücklich. - Nur für den Augenblick... und das ist jetzt!"

  

Rudi, Friedberg /Hessen